Über die Kunst des Weglassens

In Berlin baute Architekt Philipp von Matt ein Atelierhaus für die Künstlerin Leiko Ikemura. Ein Dialog zwischen Weniger und Mehr; ein zurückhaltendes Passepartout fürs gemeinsame Leben.

Leiko Ikemura und Philipp von Matt

»Der Reichtum unseres Hauses besteht
im Weglassen.«

Berlin ist an diesem Morgen, wie es sich gerne gibt: geschäftig. Lieferdienste klingeln sich durch die Straßen, das Wasser der Spree glitzert, Baukräne drehen sich über den Fluten. In Kreuzberg werden die Hinterhöfe bepflanzt, es wird geerntet und gefrühstückt. Vibrierender Sommer, eher ein Zuviel als zu wenig, jedenfalls an Geräusch. In einer Nebenstraße sieht es anders aus. Eine Häuserreihe mit unterschiedlich hohen Geschossen, davor eine Lindenallee, noch zu jung und schmal, um die ersten Stockwerke zu erreichen. Ein Viertel im Auf- und Umbau. Darunter eine Fassade, die auffällt, weil sie nicht auffällt. Ohne Eigenschaften ist sie deshalb nicht, hell, wenige, platzierte Fenster. Ein Chamäleon, das sich mitten in der Stadt versteckt.

Hier ist das Domizil von Leiko Ikemura und Philipp von Matt. Ein Paar der Kunst. Nicht der lauten, die Berlin bestimmt, sondern der leisen, die international unterwegs ist. Leiko Ikemuras Arbeiten sind gerade in Tokio, Malaga, Neumünster und Liechtenstein zu sehen. Philipp von Matt entwickelt ihre Ausstellungen und als Architekt – ganz nebenbei – Häuser, Bauten für die Kunst.

 

Das erste Haus, das er für eine Künstlerin entwarf, ist sein eigenes, das er mit seiner Frau Leiko Ikemura bewohnt und das sich wie ein Chamäleon gibt. Jedoch nur von außen, von innen wird schnell klar, dass es um anderes geht. Da schießen die Heroen der Kunstgeschichte durch den Kopf. Tintorettos Malereien, Giacomettis Skulpturen, Zumthors Bauten. Nicht weil sie als Zitate von den Wänden hallen, sondern Stimmung und Dimension prägen, Perspektive vermitteln, wo sie eigentlich nicht ist. Kunstgriffe wie Wände mit leichter Schräge zu versehen, so dass die Räume stärker in die Höhe und in die Weite verlaufen – man erkennt: von Matt ist von der Malerei geprägt.

Sein Haus bleibt dabei bescheiden und doch ist es ein Mehr. Dabei sollte es ein Weniger sein. „Der Reichtum unseres Hauses besteht im Weglassen“, sagt Leiko Ikemura. „Weniger ist mehr“ übersetzte Ludwig Mies van der Rohe das Axiom für sich. Das Prinzip von Ordnung und Gestaltung findet sich im Bauhaus, aber auch in diesem Künstlerhaus in Berlin. Es ist ein Domizil, das von den offenen Stellen lebt, den Durchblicken, dem Spiel mit Licht und Schatten. Ein Ort für ein Paar, das viel in der Welt unterwegs ist und Heimat braucht. Vielleicht kann dieses Haus mit seinen fünf Geschossen eine solche sein, für die beiden und auch für die Besucher, denen sie ein gastfreundliches Appartement gewidmet haben. Vielleicht auch für den Spaziergänger, der das Haus von außen betrachtet und meint, es wäre schon immer da gewesen.

Wie man dieses Fluid entwirft? Philipp von Matt ist ein Mensch, den es immer zur Kunst zog. Im Kanton Nidwalden geboren, geprägt durch Leonard von Matt, Großonkel und renommierter Schweizer Fotograf, arbeitete er in Büros von Jean Novel bis zu Renzo Piano, gründete 1994 sein eigenes und fragte sich: Wie muss das Haus für einen Kunstschaffenden entwickelt sein? Praktischerweise gab er sich selbst die Antwort: „Die Freiheit der Künstlerin hat als Basis ihrer Entfaltungsmöglichkeit in allen Belangen oberste Priorität. Sie muss in sicherer Geborgenheit so ungestört wie möglich über Raum und Zeit verfügen können.“ Liest man es, könnte man meinen: ein hehrer Anspruch des Architekten. Denkt man es, weiß man: was für ein empathisch-fürsorglicher Blick auf die Kunst und die Schaffende.

„Alle Freunde haben uns gewarnt“, gesteht von Matt als er über die Baupläne spricht, „aber wir haben uns nicht unter Druck gesetzt. Die Planung hat fast sechs Jahre gedauert, die Bauzeit bis zum Bezug 14 Monate.“ Sechs Jahre Planungszeit – es gibt Ikonen, die noch mehr Weile brauchten. Die Kathedralen sind Beispiele dafür oder manche Baustelle in Berlin. Aber tatsächlich entstand so ein Haus, dem man vielleicht am besten erzählerisch beikommt. Weil es Räume hat, als hätte sie ein Schriftsteller geschrieben. Mit Zimmern, die zu Erzählungen werden. Natürlich gibt es wie in jeder guten Erzählung ein Herzstück, eine Flügeltür, hinter der ein Universum steckt.

B40 und D40, Marcel Breuer

Split Chair, Daniel Lorch

»Die Imagination ist die stärkste Kraft in meiner Kunst.
In jedem Menschen sehe ich einen Baum, einen
Löwen, Pinguin oder anderes.«

„Die Imagination ist die stärkste Kraft in meiner Kunst“, sagt Leiko Ikemura, als sie ihr Atelier öffnet. Und da beginnt er, Ikemuras Kosmos aus fantastischen Wesen, Hasenköpfen, die auf Frauenkörpern ruhen und unter ihren reifrockartigen Röcken Schutzräume bieten, ob für das Kind, den großen Menschen oder jenes kleine Wesen in ihm. „In jedem Menschen sehe ich einen Baum, einen Löwen, Pinguin oder anderes“, sagt sie. Und sie sagt auch, sie interessiere sich für die Hybridität der Dinge. Was vermag sie in sich, in Philipp von Matt oder dem Haus erkennen? Das bleibt ungesagt. Zu sagen ist: Ikemura ist eine Künstlerin, die Grenzen zart verwischt, aber damit starke Botschaften sendet. Sie wurde in Japan geboren, studierte in Osaka, später in Spanien. Nach Übersiedlung in die Schweiz hinterließ sie Spuren in der Zürcher Kunstszene, lehrte an der Universität der Künste in Berlin, hat heute eine Professur in Japan, dazu sieht man ihre Werke in weltweiten Ausstellungen.

Nun ist der Ort, den sie als ihre Heimat wählte, gemacht für ein vielgestaltiges Leben. Ihre Assistenten arbeiten direkt oberhalb des Ateliers. Doch es bleibt leise im Haus. Es wirkt, als würden die Mauern die Sehnsucht nach Stille selbst aufnehmen. Eine sensible Behausung, die je nach Tages- und Jahreszeit mit Licht spielt und tief durchatmet, dafür hat von Matt gesorgt. Denn ein Künstlerhaus braucht Luft: begrünte Innenhöfe, Loggien und Dachterrassen. Dazu Materialien, die das Weniger unterstreichen, nicht das Mehr. Gipsputzwände gehören dazu, die für ein gesundes Raumklima sorgen, und natürlich die raue Sprache des Betons. „Die einfache Materialität lässt Oberflächen ehrlich und ungeschminkt selbst sprechen, was den Räumen Halt und Charakter verleiht“, erläutert der Architekt. Kontraste, Ausgleich, Harmonie – im Künstlerhaus von Ikemura und von Matt ist alles miteinander verbunden, auch die sparsam verteilte Möblierung, die Klassiker und Vintageteile zueinander in Beziehung setzt.

„Ich denke, wir brauchen nicht nur materielles, sondern auch spirituelles Wohlergehen“, sagt Ikemura. „Einen Weg, um die Fragen, die wir haben, in einem tieferen Sinne zu erfahren – wie zum Beispiel warum wir hier sind, woher wir kommen und wohin wir gehen. Es sind einfache Fragen, aber niemand kennt die Antworten. Dafür können Kunst und Religion so hilfreich sein.“ Auch ihr Haus gibt eine weitere Stimme dazu, und damit ist es aktueller denn je.

K2A / L25, Gerrit Rietveld

D12 / K2D