D4N
Ein Schmetterling entfaltet
die Poesie des D4
Unikat
Für ihre Interpretation eines Bauhaus Möbels wählte Kerstin Bruchhäuser bewusst den ungepolsterten Stuhl D4 von Marcel Breuer. Entworfen als Allrounder »für Schiffe, Sportplätze, Terrassen, Sommerhäuser, Gärten, Gartencafés« wurde der zusammenklappbare Stahlrohrklubsessel mit Stoffgurtbespannung im Jahr 1927 vorgestellt. Längst Ikone, ist Breuers mobiler D4 bereits seit 1980 in die ständige Sammlung des Museum of Modern Art New York aufgenommen.
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Für ihre Version hat Kerstin Bruchhäuser entschieden, das Stahlrohrgestell des D4 zu belassen, um sich auf die Gestaltung der textilen Gurtflächen – Sitz, Rücken- und Armlehnen – zu konzentrieren.
In aufwändiger Handarbeit kreierte sie über drei Monate ein Patchwork und bediente sich der traditionellen koreanischen Pojagi Technik. Hierbei werden Stoffreste mit markanten Kedern aneinander genäht, so das Vorder- und Rückseite fast identisch aussehen. Das Ergebnis: ein beidseitig ästhetisch-schönes Textil.
Als Referenz zu den vier Grundfarben, wählte Bruchhäuser für ihren Stoff vier Kolorits: Gelb, Grün, Blau und Pink. „Ich habe das Patchwork entsprechend dem Bauhaus Gedanken bewusst auf vier Farben begrenzt“, erklärt sie. Die verwendeten Stoffreste besitzen globale Wurzeln: ein Teil stammt aus der Lauenförder Werkstatt von Tecta. Ein weiteres Material aus deutschen Militärrucksäcken, die sie in einem Second Hand-Militärladen in Los Angeles fand. Blaue Stoffe waren einst Jeanshosen, dazu mischt sie einen alten, japanischen Kimonostoff zu einem symmetrischen Muster.
Ausgangspunkt für ihr Patchwork ist ein Schmetterling des Kimonostoffes, der sich im Zentrum der D4 Sitzfläche befindet und von dort aus das gesamte Muster entfaltet. Die Stoffreste sind in perfekter Symmetrie angeordnet, durch das Übereinandernähen per Hand gibt es immer wieder leichte Verschiebungen. „Ein spannender Kontrast entsteht: Der flexible Stoff mit den leicht versetzten Nähten wird auf dieses super gerade und glänzende Stahlrohr aufgezogen“, erklärt die Hamburger Designerin.
Mit ihrer Interpretation weist Kerstin Bruchhäuser dem D4 eine neue Zukunft: Das Mix & Match der unterschiedlichen Stoffe in koreanischer Nähtechnik zitiert nicht nur die globale Welt, sondern ist zugleich ein Versprechen an die Nachhaltigkeit. Eine Ikone, die Historie und Zeitgeist neu verbindet.
Kerstin Bruchhäuser, geboren 1974, lebt und arbeitet in Hamburg. Sie studierte von 1999 bis 2005 Illustration und Kommunikationsdesign an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg.
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In dieser Zeit begann sie, erste textile Bilder zu kreieren. 2009 fügte sie einen Promotionsstudiengang in Kunst und Design an der Bauhaus Universität Weimar hinzu, den sie mit dem PhD abschloss. Ihre Dissertation befasste sich mit dem Thema „Text auf gebrauchtem Textil in der Gegenwartskunst“. Zahlreiche Ausstellungen in Berlin, Hamburg und Weimar sowie Stipendien an der Bauhaus Research School markieren seitdem ihren Weg.
Ein Aufenthalt in Los Angeles von 2005 bis 2007 nahm außerdem großen Einfluss auf ihr textiles, künstlerisches Werk, das auch dort auf große Anerkennung stößt. 2018 ist Kerstin Bruchhäuser mit der Ausstellung „The world of Frida“ im kalifornischen Walnut Creek vertreten. Seit 2014 lehrt die Gestalterin außerdem an der HAW Hamburg das Fach Textildesign.
Interview Kerstin Bruchhäuser
Koreanische Patchwork-Tradition trifft Marcel Breuer
Wie kam es zu der Kooperation mit Tecta?
Kerstin Bruchhäuser: Der Kontakt zu Tecta besteht schon sehr lang. Durch eine verwandtschaftliche Beziehung zu Axel Bruchhäuser und Christian Drescher. Vor kurzem berichtete ich von der koreanischen Pojagi Nähtechnik, mit der ich großformatige Textilarbeiten erstelle. Ich nähe Portraits aus alter Weißwäsche. Christian und Daniela Drescher waren sehr interessiert an dieser Technik und besuchten mich in meinem Atelier in Hamburg. Sie fragten direkt, ob ich mir vorstellen kann, einen Bauhaus-Stuhl mit Pojagi neu zu interpretieren.
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Wie ging es dann weiter?
Kerstin Bruchhäuser: Ich habe mir einen Stuhl aus der Bauhaus Serie zur Neuinterpretation ausgesucht: den Clubsessel D4 von Marcel Breuer. Ich finde den Stuhl cool, weil er nicht gepolstert ist. Man kann Vorder- und Rückseite sehen. Das passt perfekt zur Pojagi Technik.
Was ist das Besondere an Pojagi?
Kerstin Bruchhäuser: Es ist eine traditionelle koreanische Patchworkart, bei der Stoffreste einlagig zusammengenäht werden. Vorder- und Rückseite sehen also nahezu identisch aus: Die Stoffteile werden so aneinander gefügt, dass man keine offenen Nähte und keine Fransen hat. Beim „normalen“ Patchwork bleibt die Rückseite offen – es muss immer zusätzlich ein Stoff gegen genäht werden.
Durch die offensichtlichen Nähte erinnern Pojagi-Tücher an Bleiglasfenster, an Sakrales. Gleichzeitig besitzen Pojagi Textilien auch etwas Alltägliches. Es ist ein eher pragmatischer Nutzen, verbunden mit einer räumlichen und ästhetischen Wirkung. Denn traditionell entstehen sie aus Stoffresten. Ihr Vorleben macht die Tücher also auch sehr spannend und bedeutsam. Pojagi-Tücher werden vielseitig verwendet: als Sichtschutz an Fenstern oder in Türrahmen. Aber auch als Verpackung, um Lebensmittel zu transportieren. Wenn man die Tücher gegen das Licht hängt, entstehen im Raum Farbfelder. – Der Aspekt der Nachhaltigkeit spielt auf vielschichtige Weise mit – aber sehr subtil.
Pojagi haben Sie dann einfach so auf den Stuhl übertragen können?
Kerstin Bruchhäuser: Die ersten zwei Entwürfe habe ich beim Nähen wieder verworfen. Die Muster passten nicht. – Sonst stelle ich eher großformatige Bilder her, zwei mal drei Meter. Da sind die Gestaltungsfreiheit und die Flexibilität größer. Wenn ein Stoffrest nicht an eine Stelle passt, schiebt man ihn woanders hin, vergleichbar einem Puzzle. Bei dem Breuer Stuhl ging das aber nicht, weil man sehr schmale Stellen hat, wie etwa die Armlehnen. Ich stellte fest, dass viele Ideen auf der Sitzfläche nicht funktionierten und das Dessin kleinteiliger werden musste. So kam ich beim dritten Entwurf auf das symmetrische Muster, das jetzt umgesetzt ist.
Gab es im Projektverlauf Abstimmungsmeetings oder haben Sie völlig frei an Ihrem Entwurf gearbeitet?
Kerstin Bruchhäuser: Ich habe in Eigenregie das Muster kreiert und die Stoffe ausgesucht. Sitzfläche, Rücken- und Armlehnen mit der Hand genäht. Eine sehr filigrane Arbeit und sehr aufwändig. Weil das Patchwork beim D4 eben zum Teil des Stuhls wird und nicht hängt, fällt natürlich das Lichtspiel weg, d.h. auch die Wirkung für den Raum kippt. Es bleiben aber die auffälligen Nähte. Dort, wo die Stoffe zusammengeführt werden, sind sie teilweise vierfach übereinandergeschichtet. So entsteht eine mehrdimensionale, reliefartige Sitz-Oberfläche.
Sehen Sie in Ihrer Neuinterpretation einen konkreten Bezug zum Bauhaus?
Kerstin Bruchhäuser: Das Projekt Bauhaus Nowhaus knüpft an die Historie an. In meinem Fall an den Entwurf von Marcel Breuer, der nach wie vor Aktualität besitzt. Das greife ich durch die Pojagi-Technik wieder auf: Indem ich Altes, die Stoffreste, zusammenfüge und daraus Neues entstehen lasse. Etwas Neues zu entwickeln und auf traditionelle Techniken zurückzugreifen ist ein klassischer Bauhaus-Gedanke.
Wie ist es, eine Design-Ikone zu verändern?
Kerstin Bruchhäuser: Es ist sehr ambivalent. Segen und Fluch zugleich (lacht). Man hat total viel Respekt. Weil der Stuhl eben in seinem Original perfekt ist. Ich kenne den D4 seit meiner Kindheit. Ich weiß, was Marcel Breuer sich gedacht hat.
Gleichzeitig ist es eine absolute Ehre, einen neuen Ansatz erschaffen zu dürfen. Die Freiheit zu haben, an dieses heilige Stück heranzugehen, es auch ein bisschen entweihen zu dürfen.